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Buchbesprechung zum Gedenkuch

Opfer der NS-Psychiatrie - Gedenken in Niedersachsen und Bremen. Raimond Reiter (Hg.). Tectum Verlag 2007. Hardcover. ISBN 978-3-8288-9312-2. 296 Seiten (mit zahlreichen Abbildungen). 24,90 Euro.

Diese gut bebilderte Neuerscheinung zum Gedenken an die Opfer der NS-Psychiatrie in Niedersachsen und Bremen will dem Leser eine Übersicht bieten. Zusammen mit dem Herausgeber sind es 30 Autoren, die eine vielseitige Sicht auf das gestellte Thema zeigen. Darunter sind Direktoren psychiatrischer Krankenhäuser, Wissenschaftler, Angehörige, Künstler usw. Zu den wohl bekannteren Autoren gehören Klaus Dörner und Asmus Finzen. Obwohl einzelne der Texte schon woanders veröffentlicht vorliegen, kann das Gesamtwerk als neuartiges Projekt eingeordnet werden, vor allem wegen der unterschiedlichen Perspektiven, die zusammengefasst worden sind.  

Das Buch gliedert sich in zwei Hauptabschnitte. Im ersten Teil werden Orte vorgestellt, an denen sich Gedenkorte für Opfer der NS-Psychiatrie befinden. Vertreten sind auf ca. 200 Seiten: Bremen, Göttingen, Hildesheim, Königslutter, Lüneburg, Oldenburg/Wehnen, Osnabrück und Wunstorf. Der zweite Teil auf ca. 100 Seiten ist „Forschung und Perspektiven“ genannt. Vor allem in diesem Teil findet man Themen, die über Niedersachsen und Bremen hinaus weisen. Dazu zählen insbesondere ein Aufsatz des Herausgebers über die Tiergartenstraße 4 in Berlin, dem damaligen Sitz der „T4“-Zentrale, und eine Übersicht von zwei ausländischen Autoren zur gegenwärtigen Situation des Gedenkens an die Opfer der NS-Psychiatrie im damaligen so genannten „Wartheland“ (Polen).

Die Beiträge zeigen, dass das Gedenken an den Orten unterschiedlich ausgestaltet ist. Mal sind es Informationstafeln (Göttingen), mal begehbare Gedenkanlagen (Hildesheim, Königslutter), mal Denkmale in Form von Stelen u.ä. (Oldenburg, Wunstorf). Auch „Stolpersteine“ des Objektkünstlers Demnig finden sich (Lüneburg, Bremen). Am Beispiel Lüneburg zeigt sich, welche Probleme Gedenkinschriften haben können: Die dort vor der Gedenkstätte im Gehweg eingesetzten Stolpersteine für zwei der namentlich bekannten Opfer der „Kinderfachabteilung“ tragen die Inschrift: „Hier ermordet …“. Tatsächlich wurden die Kinder in den Häusern 23 und 25 der Landes- Heil- und Pflegeanstalt im Zweiten Weltkrieg getötet, nicht aber im Wasserturmgebäude, wo sich jetzt die Räume der Gedenkstätte befinden.

Einige Gestaltungen sind in ihrer Symbolik mehrdeutig. Dies gilt vor allem für die beiden Mahnmale in Hildesheim. Isolation, Absonderung, Misshandlung von Menschen, diese Elemente treffen auf die Opfer der NS-Psychiatrie zu, aber nicht nur auf sie. Ohne zusätzliche Informationen kann der Betrachter die symbolische Anordnung der Mahnmale auch auf Situationen in der Gegenwart beziehen. Das ist vermutlich gewollt.

Interessant sind einige Reden zur Einweihung von Denkmalen (Oldenburg, Wunstorf, Lüneburg). Sie zeigen, dass inzwischen unter Psychiatern Sichtweisen anzutreffen ist, die sich sehr von früheren unterscheiden. Nicht nur die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist inzwischen selbstverständlich sondern auch eine kritische Sicht auf die Rolle der Anstaltspsychiatrie im „Dritten Reich“ bis hin zur Selbstkritik innerhalb des Berufsstandes.

Andere Sichtweisen auf  das Gedenken haben Künstler, die Mahnmale gestaltet haben, wieder andere Wissenschaftler, die noch offene Forschungsfragen formulieren. Auch Angehörige kommen zu Wort und Erfahrungen aus der Gedenkstättenarbeit werden dargestellt, insbesondere aus Oldenburg und Lüneburg. Für die Praxis ist eine Kurzübersicht zu allen Gedenkorten nützlich, d.h. mit Adressen, Bezeichnungen der Objekte, Inschriften usw.

Auch die Frage nach der Zukunft der Gedenkkultur im Bereich der Psychiatrie wird thematisiert, hätte aber vielleicht genauer diskutiert werden können. Insgesamt kann man den Charakter des Werkes als dokumentarisch bezeichnen. Ob dabei die Wiedergabe von Zeitungsartikeln über die Einweihung der jeweiligen Gedenkorte aussagekräftig ist, mag der Leser entscheiden. Auf jeden Fall eignet sich das Buch als Nachschlagewerk zu einem oft vernachlässigten Thema. Abschließend soll das „Motto“ genannt werden, unter dem der Herausgeber das Werk sieht:

„Damit die Opfer ein Gesicht und eine Stimme bekommen, damit die Täter sichtbar werden und erkennbar bleiben, damit die Erinnerung wach gehalten werden kann, damit auch zukünftige Generationen ihre Moralität an der Geschichte rekonstruieren können.“

 

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